Ich betrat mit meiner Tochter die „Sockenzone“ der KAWI-KIDS-Krabbelgruppe durch die Babybarriere, setzte sie auf den Boden und holte mir einen Kaffee. Wie von der Tarantel gestochen robbte sie los, dann um die Ecke, in den anderen Teil der Räumlichkeit, dorthin, wo das Xylophon-ähnliche Musikinstrument steht. Mit und ohne Schlägel trommelte sie auf die Tonhölzer, als spielte sie Rachmaninow in einer apokalyptischen Interpretation. Alle Eltern und Kinder im KAWI starrten sie an, dann mich, der mit ähnlichem Enthusiasmus und hochrotem Kopf den letzten Tropfen Kaffee aus der Pumpkanne pumpte, dann schauten sie wieder zu Selma. Ein Raunen ging durch KAWI.
Kurz vor meinem Studium lebte ich in einer Kleinstadt bei Münster, wo sich ab und zu auf dem McDonalds-Parkplatz ein paar Hoffnungslose trafen, um die vermeintlichen Vorzüge ihrer PKWs zu vergleichen. Mein Auto hatte weder Alufelgen, noch einen CD-Wechsler, keine Sportsitze und auch kein außergewöhnliches Antriebsaggregat. Es war einfach ein Citroen AX in weiß ohne alles und selbst davon fehlten mittlerweile einige Teile. An diese Zeit muss ich immer denken, wenn ich mit meiner Tochter zu KAWI-KIDS gehe. Die Krabbelgruppe ist quasi der McDonalds-Parkplatz in meinem privilegierten Viertel, nur mit Babys statt Autos, denn Autos besitzt man hier bestenfalls in einer carsharing community. „Wie alt?“, fragen die Mütter geschlechtsneutral, weil meine Tochter keine eindeutigen Klamotten trägt und die Frage nach dem Geschlecht zumindest hier in der Südvorstadt als archaisch gilt. „Ich weiß gar nicht genau … zehn Monate … elf?“ „Ach so, na dann ist das ja ok.“, antwortet man mir gestelzt. Andere Kinder in Selmas Alter liefen hier bereits auf zwei Beinen, konnten rutschen, klettern, waren abgestillt und manche sagten ganze Sätze mit bis zu drei Wörtern. Selma kann von all dem nichts, sie robbt und guckt süß, während die einjährige, windelfrei erzogene Lucy ihrer Mutter in Babyzeichensprache erklärte, dass sie mal Groß müsse. So unterschiedlich die Ansprüche der Eltern bei KAWI auch sind, eins haben sie alle gemeinsam: Alle wollen, dass ihr Kind an dem großen hölzernen Xylophon-Ding im Nebenraum spielt. Doch so sehr es sich Kathrin, Tanja und Marco auch wünschen, ihre Janusse, Emmas und Moritzen können sich nur wenige Sekunden für die hölzernen Klangwelten begeistern. Zwei, drei Töne, dann verschwindet der Filzball des Schlegels im Mund des Wunderkindes zur Speichel-Osmose. Selma hingegen brachte Schlegel, Xylophon-Dings und Trommelfelle der bewundernden Schaulustigen bereits seit geschlagenen fünf Minuten an die Materialgrenzen und hörte auch erst auf, als ich ihr heimlich und verdeckt das Apfel-Birne-Zimt-Quetschi gab, das ich vorher mit ihr, den unauffälligen Seiteneingang nutzend, unter dem Xylophon platziert hatte.